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Kurzgeschichten

Zwei Fallbeispiele aus der Feldenkrais-Praxis von Dr. Barbara Pieper
Einzelstunden in „Funktionale Integration“

“Melanie”
Melanie ist eine sehr begabte elfjährige Geigerin. Sie nimmt Feldenkrais-Einzelstunden, weil sie sich beim Geigen zu sehr anstrengt und verspannt. Melanie bringt ihre Geige in die Stunde mit. Sie hat, so stellt sich heraus, kein Gespür für den Kontakt ihrer Füße mit dem Boden. Sie kann die Unterstützung, die der Boden ihr gewährt, nicht für ihre aufrechte Haltung nutzen. Melanie hat ihre hohe Intelligenz eingesetzt, ihre kognitiven und musikalischen Fähigkeiten zu entwickeln. Darüber hat sie die Verfeinerung der Kinästhetik vernachlässigt. Dabei braucht gerade sie diesen Aspekt ihrer Intelligenz, um ihr Geigenspiel zu vervollkommnen. Mit dem Eifer ihres Alters lernt Melanie rasch, was es mit dem Anti-Schwerkraft-Mechanismus auf sich hat. Damit ist gemeint, was in Melanie (wie in uns allen) ohnehin vorhanden, “vorarrangiert” ist: die Tendenz, “sich automatisch in die richtige Position zur Schwerkraft zu bringen”, (Feldenkrais 1994: 110). Dazu muss sie zunächst bewusst erlebt haben, wie ihr Skelett ihr Halt gibt und welche Anstrengung überflüssig ist. Das wirkt sich von selbst auf ihr Geigen und ihr gesamtes Auftreten aus.
Feldenkrais, Moshé: Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens. Junfermann, Paderborn1994

“Hannelore”
Hannelore ist eine sportliche, zupackende Frau von Ende Sechzig. Sie spielt gern und oft Golf, macht aber keine Fortschritte. Ihre Halswirbelsäule ist seit einer Operation in ihrer Beweglichkeit vor allem beim Drehen beeinträchtigt. Hannelore will sich damit nicht abfinden. Sie hat von verblüffenden Erfolgen der Feldenkrais-Methode gehört und erhofft sich einen ähnlichen Effekt. In der Einzelstunde findet Hannelore eine originelle Metapher, wie sie ihren Kopf in Beziehung zum übrigen Körper empfindet, wenn sie den Kopf in Rückenlage nach rechts und links bewegt: “Wie eine Plastik im Museum”, sagt sie, “Frau ohne linke Schulter”. Diese Visualisierung ihres Selbstbildes zeigt, wie genau das, was Hannelore von sich empfindet, dem entspricht, was sie tut. Sie organisiert ihren Kopf so, als habe sie nur eine Körperhälfte, zumindest vertraut sie nur der rechten. Mag sein, dass sie, ohne davon zu wissen, eine früher einmal sinnvolle Schonhaltung beibehalten hat. Es fällt ihr wieder ein, dass sie sich in den fünfziger Jahren das linke Bein gebrochen hat. Die Suche nach Ursachen bleibt immer Spekulation. Wichtiger ist die Frage, wie Hannelore jetzt lernen kann, ihre linke Körperhälfte wieder in ihr Selbstbild und damit in ihr Handeln zu integrieren. (Die Einzelarbeit in der Feldenkrais-Methode heißt denn auch Funktionale Integration.) Auch im Alter neugierig geblieben, entdeckt Hannelore im Verlauf der Einzelstunden von neuem, was sie schon einmal gekonnt hat: den aufrechten Gang auf zwei Beinen. Seit sie sich beim Drehen nach links auch wieder auf ihr linkes Bein verlassen und sogar endlich die rechte Ferse wieder vom Boden abheben kann, spielt sie noch besser Golf. Vor allem aber hat sie neues Zutrauen zu sich und das weitet sich auf andere Lebensbereiche aus.

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Veröffentlicht in: Pieper, Barbara 1997: Subjektorientierung jenseits des Zaunes: Anregungen für die Praxis - Ideen aus der Praxis (FeldenkraisMethode), in: G. Günther Voß/Hans Pongratz (Hrsg.): Subjektorientierte Soziologie. Karl Martin Bolte zum siebzigsten Geburtstag, Leske und Budrich, Leverkusen, S. 127 – 154, S. 142